2004-05-24

Susan Sontag zu den Folterfotos

--- Die Süddeutsche Zeitung bringt heute einen zunächst in der New York Times erschienenen langen und wichtigen Essay der amerikanischen Autorin und Vorzeige-Intellektuellen Susan Sontag über die Folterfotos aus Abu Ghraib und ihre Wirkung aufs kollektive Unterbewusstsein der Menschheit in deutscher Übersetzung. Sie geht darin konkret auf das spin doctoring der US-Regierung ein: Die Bush-Administration und ihre Verteidiger sind mehr mit dem PublicRelations-Desaster – der Weiterverbreitung der Bilder – beschäftigt als mit der komplexen Schuldfrage in Bezug auf die verantwortlichen Führungskräfte und mit den kriminellen Methoden, die durch diese Aufnahmen ans Licht kamen. Als erstes ist die Realität auf die Bilder verlagert worden: Die US-Regierung zeigte sich schockiert und angewidert von den Aufnahmen – gerade so, als ob diese Bilder selbst das Entsetzliche wären und nicht das, was sie zeigen. Auch das Wort Folter wurde sorgsam vermieden. Die Gefangenen seien möglicherweise „missbraucht“, schließlich auch „gedemütigt“ worden – mehr wurde nicht eingeräumt. „Mein Eindruck ist, dass den Soldaten vor allem Missbrauch vorgeworfen wird. Genau genommen ist das nicht dasselbe wie Folter“, sagte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bei einer Pressekonferenz. „Deshalb werde ich das Wort Folter nicht verwenden“. Worte verändern, Worte verstärken oder reduzieren. Das angestrengte Vermeiden des Wortes „Genozid“ während des Abschlachtens Hunderttausender Tutsis in Ruanda durch ihre Hutu-Nachbarn wies darauf hin, dass die amerikanische Regierung damals nicht beabsichtigte, etwas dagegen zu unternehmen. Die Weigerung, die Vorkommnisse in Abu Ghraib – und in anderen Gefängnissen im Irak und in Afghanistan, oder in Guantanamo Bay – als Folter zu bezeichnen ist so unerhört wie die Weigerung, das Geschehen in Ruanda einen Genozid zu nennen.

Noch ein paar Zitate: Es fragt sich, wie viele der sexuellen Foltermethoden im Abu-Ghraib-Gefängnis durch das reiche Angebot pornografischer Bilder im Internet inspiriert wurden. Gewöhnliche Leute, die ihre Videoaufzeichnungen ins Internet stellen, versuchen vermutlich nun, diese nachzuahmen. Leben heißt fotografiert werden und Aufzeichnungen vom eigenen Leben zu besitzen. ... Auch Amerikaner tun so etwas, wenn man ihnen erklärt oder das Gefühl gibt, dass diejenigen, über die sie absolute Macht haben, solche Misshandlungen, Qualen und Erniedrigungen verdienen. Sie tun es, wenn man sie überzeugt, dass die Menschen, die sie foltern, einer minderwertigen, verachtenswerten Rasse oder Religion angehören. Die Bedeutung dieser Bilder liegt nicht nur darin, dass sie von solchen Handlungen Zeugnis geben, sie liegt auch darin, dass die Täter keinerlei Unrechtsbewusstsein hatten angesichts dessen, was die Bilder zeigen. Noch erschreckender ist, dass sie dabei Spaß hatten, denn die Bilder sollten ja in Umlauf gebracht und von vielen gesehen werden. Diese Vorstellung von Spaß gehört, leider, immer mehr zur „wahren Natur Amerikas“ – entgegen der Ansicht, von der George Bush die Welt überzeugen möchte. ... An der Tendenz, Folter und sexuelle Demütigung als Spaß zu verstehen, wird sich wenig ändern, solange Amerika sich immer mehr in eine Festung verwandelt, in der nur als Patriot gilt, wer sich vor Waffengewalt mit bedingungslosem Respekt verneigt und maximale staatliche Überwachung als Notwendigkeit anerkennt.