2004-08-12

Hartz IV, die Reform und das Ende des Sozialstaats

--- Michael Stürmer beschreibt heute in der Welt die Metaphysik des Sozialstaats und erklärt gleichzeitig dessen sich ankündigendes Ende. Hartz IV erscheint da nur als Kristallisationspunkt einer umfassenderer Veränderung und die Probleme der Sozialdemokraten sind laut Stürmer letztlich auch die der Union: Was der große Spötter Johannes Gross vor mehr als einem Jahrzehnt in einer Kolumne dahinwarf, kann der Bundesrepublik zum Schicksal werden, und den politischen Parteien auch. Wachstum des Bruttosozialprodukts, Wachstum der Menschenzahl, Wachstum der Märkte, allezeit billiges Öl und noch billigere Atomkraft - darauf waren vor einem halben Jahrhundert Verheißung und Wirklichkeit des Wirtschaftswunders gegründet. Darauf wurde aber auch die politische Lebensform gebaut. Adenauer hatte eine geteilte und zerrissene Nation zu beruhigen, gegen die Versuchungen aus dem Osten zu immunisieren und durch stabile Verhältnisse die Deutschen mit sich selbst zu versöhnen und die Nachbarn zu beruhigen. Im Kern stand die immer weitere Mehrung von Wohlstand und Wohlfahrt. Sie bot den Ersatz einer Staatsräson, die deutsche Mark Inbegriff von Verlässlichkeit und Vertrauen. Lange Zeit ist es nicht nur gut gegangen, sondern der "Capitalisme Rhenan" (Michel Albert) wurde bewundert und nachgeahmt. Heute sprechen die großen Blätter der City of London, "The Economist" und die "Financial Times", vom "sick man of Europe". Der Ernstfall des Sozialstaats ist eingetreten. ... Die Union sollte den Ernst der Lage nicht unterschätzen. Wäre sie am Regieren, so hätte sie nicht minder mit sich selbst und den Wählern zu kämpfen. Denn was geschieht, ist - bei aller handwerklichen Schludrigkeit der Reformen - Ausdruck einer tiefen Malaise. Das unaufhaltsame Wachstum der Sozialkosten aller Art überfordert das Regierungspersonal, die regierende Parteienkoalition, und genau genommen auch die Opposition. Die Erkenntnisse der Demographen, die seit drei Jahrzehnten zu vorsichtigem Abbremsen rieten, hat die Politik lange Zeit mit Nichtachtung gestraft. Stattdessen war die Heilige Allianz der Sopos aller Parteien dabei, die allgemeinen Wahlen zu einer Auktion um Macht und Einfluss zu machen und, wo es bis dato ein Bedürfnis nicht gegeben hatte, ein neues zu erfinden und zu befriedigen. Aus tausend Verheißungen wurden aber, für Gerechte und Ungerechte, einklagbare Besitzansprüche. Stürmer befürchtet eine Belastungsprobe, die man sich, wenn man ruhig weiterträumen möchte vom "Modell Deutschland", wie es einmal hieß, besser nicht ausmalt.