Der Terrorfürst meldet sich im US-Wahlkampf zu Wort
--- Ruhig redet er, erhebt nur ab und an mahnend den Zeigefinger der rechten Hand, das Waffen- und Korangedöns hat er abgelegt: Osama bin Laden hat sich in einer seiner berühmten Videobotschaften direkt an das amerikanische Volk gewandt und gibt sich darin überraschend diplomatisch und "staatsmännisch", wie viele Kommentatoren bemerken. Er erläutert die Beweggründe der Gotteskrieger für die Zerstörung der Twin Towers am 11. September und den gesamten Feldzug gegen die USA und ihre Verbündeten ("Wir haben Euch bekämpft, weil wir frei sind ... und wir wollen die Freiheit für unsere Nation wieder erlangen. Wenn Ihr unsere Sicherheit untergrabt, dann untergraben wir die eure"). Angeblich ist bin Laden die Sehnsucht zur Zerstörung der Türme gekommen, als er in den 1980ern die israelischen, von den USA geduldeten und unterstützten Angriffe auf den Libanon sah und dort ebenfalls "Türme" einstürzten, was die Vergangenheit ziemlich kittet und einen sehr direkten, auch rechtfertigenden Bezug zwischen beiden Ereignissen herstellen soll. Ansonsten rechnet bin Laden mit der Bush-Dynastie ab, vergleicht den alten Bush mit den arabischen Despoten und spottet über George W., weil dieser sich bei der Benachrichtigung über die New Yorker Anschläge in einer Schule in Florida weiter aus einem Bilderbuch über "Ziegen" und ähnliches Getier vorlesen lies. In den Wahlkampf mischt sich bin Laden erst am Ende inhaltlich direkt ein, indem er sagt: Eure Sicherheit liegt nicht in den Händen von Kerry, Bush oder al-Qaida. Eure Sicherheit liegt in Euren Händen. Dass es für die Gotteskrieger kaum einen Unterschied macht, wer nun eigentlich das Ruder als Staatsmann in den USA schwingt, haben sie aber ja auch bereits deutlich gemacht. Bin Laden will mit den "Despoten" an der Spitze nichts zu tun haben, er fordert anscheinend eine Art wahre Volksherrschaft, obwohl der von ihm präferrierte internationale islamistische Gottesstaat damit wohl wenig zu tun haben dürfte. Nun wird viel darüber spekuliert, wem die überraschende Wortmeldung des Terrorfürsten kurz vor der US-Wahl am meisten nützt: Vielleicht genügt Bin Ladens plötzliches Erscheinen in der heißen Phase des US-Wahlkampfes, um Bush ins Ziel zu bringen. Denn die große Mehrheit der Amerikaner traut Bush bei der Bekämpfung des Terrorismus mehr zu. Deshalb könnte die Erinnerung an die Gefahr dem Amtsinhaber nutzen. Bin Laden hat Bush den Gefallen getan, die Aufmerksamkeit vom Chaos im Irak weg zu lenken. Andererseits wird Bin Ladens Fernsehauftritt viele Amerikaner auch schmerzlich daran erinnern, dass ihr Präsident zwar zwei Kriege führte, in denen hunderte US-Soldaten starben, aber der Staatsfeind Nummer eins noch immer unbehelligt den internationalen Terror orchestrieren kann. Aber das sind wohl wirklich alles reine Spekulationen. Es ist wohl wirklich eher der Showefffekt, auf den es bin Laden angelegt hat: Nicht Bush präsentiert seinen Kopf kurz vor den Wahlen als wichtiges Propagandaelement, sondern er selbst zeigt sich seinen Anhängern als "Spiritus Rector" und dem Rest der Welt als gesunder, sich gar besonnen gebender Führer. Und natürlich ist das Timing bei dieser "doppelten Botschaft" wieder perfekt: Geduld und Verharrungsvermögen gelten Islamisten und Dschihadisten als Tugenden von herausragender Bedeutung; in jedem Qaida-Strategiepapier, in jeder Dschihad-Anleitung wird darauf verwiesen, wie wichtig es ist, auf den richtigen Moment warten zu können. Osama Bin Laden hat in seiner Videobotschaft heute erneut gezeigt, dass er der ungeschlagene Meister in dieser Disziplin ist: Er demonstriert, dass er allen Verlockungen widerstanden hat, übermütig und stolz zu beweisen, dass er noch lebt und seinen Häschern bislang entrinnen konnte. Stattdessen hat er auf einen Moment gewartet, der perfekter nicht hätte gewählt sein können: Mitten im Muslimen als gesegnet geltenden Fastenmonat Ramadan, an einem Freitag, und das auch noch wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen in den USA, hat er sich geäußert. Diese Tatsache wird von seinen Sympathisanten ohne Zweifel als weiterer Ausweis seiner spirituellen Führungsqualität gewertet werden. Auf einen anderen interessanten Aspekt weist Telepolis hin: Ins Spiel geraten könnten jedoch auch konkurrierende islamistische Gruppen, beispielsweise die von Sarkawi, wenn denn dieser noch leben sollte. Sie könnten sich nun genötigt sehen, die Medienaufmerksamkeit durch entsprechende Anschläge oder Entführungen wieder auf sich zu lenken. Auch im Lager der Terroristen finden Wahlkämpfe im Scheinwerfer der Medien statt. Nur dass die wichtigste Gruppe hier nicht gewählt wird, sondern sich durch ihre Propagandataten durchsetzt.

Das etwa fünfminütige Video selbst (auf arabisch, al-Dschasira, dem es zugespielt wurde, zeigte die Ausschnitte) ist bei Ogrish.com zu finden (es empfiehlt sich aber, diese Seite nur sehr selektiv zu nutzen), eine komplette englische Übersetzung gibt es beim NEIN.
Update: Video und verschiedene Übersetzungen inzwischen auch bei Zombietime. Zudem streicht Bröckers in Telepolis die Widersprüchlichkeiten der Aussagen bin Ladens heraus.
Update II: Al-Dschasirat hat inzwischen den kompletten Text der "Ansprache" online gestellt. National Review kommentiert in Bezug auf die nun klarer werdende Intention bin Ladens: After seeing it we can safely put him in the "anybody but Bush" column. ... It is not a generic anti-American screed, as the original Al Jazeera edit was clearly meant to imply. The video is an appeal by Osama bin Laden to the American electorate to cast their votes against George Bush. Knowing that, remember, as Osama says, your security is in your own hands.
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