2005-05-24

Bye, bye Rot-Grün, auf zur großen Koalition?

--- Heute sind denn auch die Zeitungen voll mit Meinungen, Vermutungen und Analysen zu Schröder und Müntes Überraschung mit den vorgezogenen Neuwahlen: Die Berliner Morgenpost/Welt etwa ruft den Abschied von Rot-Grün aus: Hellrot ist die Krawatte, die Bundeskanzler Gerhard Schröder am Morgen danach trägt, hellrot und ohne Schnörkel. Am Abend zuvor, als er um 20 Uhr im Kanzleramt mit eisiger Miene vor die Presse trat und vorgezogene Neuwahlen ankündigte, trug er noch eine rot-grüne, rote Grundierung, grüne Querstreifen. Über Nacht ist das Grün verlorengegangen, abgelegt worden, verschwunden. Jetzt zählt wieder Rot oder vielmehr: Jetzt zählt nur noch Rot. Gerhard Schröder grüßt, durchaus nicht mürrisch, dreimal kurz mit "Guten Morgen" - und huscht dann an den Journalisten vorbei, hinein zur SPD-Präsidiumssitzung ins Willy-Brandt-Haus. Kurz darauf erscheint SPD-Vize Kurt Beck und verkündet den Abschied vom rot-grünen Lager im allgemeinen und von den Grünen im besonderen: "Jede Partei kämpft für sich. ... Nach dem Debakel von Nordrhein-Westfalen in keiner Landesregierung mehr vertreten, ist die Verkündung von Neuwahlen zugleich nun auch die indirekte Absage an eine solche Koalition im Bund. Schröder weiß genau wie SPD-Chef Franz Müntefering: Eine Wiederauflage von Rot-Grün kann die wechselseitige Blockade aus Bundestag und Bundesrat nicht überwinden. Hierfür braucht es eine neue Farbenlehre. Entweder Schwarz-Gelb - oder Rot-Schwarz. Sowohl im Umfeld des Kanzlers als auch in dem des SPD-Chefs wird daher als Ziel der Neuwahl verkündet: "Wir wollen stärkste Fraktion werden." Um dann eine von der SPD und Gerhard Schröder geführte große Koalition zu führen? Das schließen zumindest führende Mitglieder des konservativen Seeheimer Kreises nicht aus. "Die SPD muß die Koalitionsaussage offenlassen", sagt Bundestagsvizepräsidentin Susanne Kastner. "Das Ergebnis der Wahl könnte ja so ausfallen, daß wir uns auf eine große Koalition einlassen müssen." ... Das Problem für Schröder und Müntefering dabei: Die Linken in Fraktion und Partei wollen keine große Koalition. Für sie gilt Münteferings Bonmot "Opposition ist Mist" nicht - oder nicht mehr. Sie sehnen sich geradezu danach. Um sich programmatisch zu erneuern. Um sich personell neu aufzustellen. Um sich wieder sozialdemokratisch zu fühlen. Und in einem Kommentar zum "simulierten Aufbruch": Müntefering wie Schröder sehen doch, was die Schlappe von NRW bedeutet. Da geht nicht nur eine lange Tradition für die SPD zu Ende; da endet ein politisches Abenteuer mit den Grünen. Da endet aber vor allem ein mentaler und programmatischer Spagat, der die ganze Regierungszeit Schröder beherrschte und mit der Kapitalismusdebatte in offener Ausweglosigkeit endete. Der Kern des Versuchs, über die Vertrauensfrage zu Neuwahlen zu kommen ist doch das implizite Eingeständnis, daß die eigenen Zentrifugalkräfte nicht mehr beherrschbar sind.

Mehr dazu etwa in der Zeit (vorab online): Der Bundeskanzler legt sich nicht fest, mit wem er nach der kommenden Bundestagswahl koalieren will. Im Gespräch mit der ZEIT sagte Schröder,er wolle für die eigene Stärke streiten. Unterdessen rücken führende Genossen von den Grünen ab. Und Chefredakteur Giovanni di Lorenzo konstatiert den Abschied von einer Generation, die Deutschland verändert hat. Wenn es also ein Kalkül gibt, dann allenfalls dies: Schröder hat die Spielregeln aufgestellt und kann vom schmeichelnden Image profitieren, er wolle lieber auf die Macht verzichten, als einen falschen Kurs einzuschlagen. Die überrumpelte Union muss sich in größter Hast auf ein Regierungsprogramm einigen. ... Der Rückzug der Generation, die seit 1968 diese Gesellschaft in allen Bereichen prägte und nirgendwo anders so erfolgreich war wie in Deutschland, hat begonnen. Was an Universitäten, an Strafgerichten oder in den Medien aus Altersgründen geschieht, wird in der Politik durch Abwahl vollzogen. Es ist kein Wegdämmern an der Macht wie in der Endphase von Helmut Kohl, es ist ein (beinahe freiwilliger) Abschied in Würde. Für die gesellschaftliche Ausrichtung der Bundesrepublik Deutschland ist dieser Generationenwechsel einschneidender als der bloße Regierungswechsel. Wenn Gerhard Schröder also – nicht Stoiber, Koch oder Rüttgers – die etwas tragische Rolle des Kanzlermachers für Angela Merkel übernehmen sollte, dann lädt sie sich eine viel größere Verantwortung auf als nur die für eine neue Koalition. Größer auch als für ein rigides Management raus aus der Wirtschaftskrise. In der Hoffnung auf einen Neuanfang steckt auch ein letzter Vertrauensvorschuss durch einen bedeutenden Teil der Wähler, die auf beängstigende Art und Weise vom demokratischen Parteiensystem enttäuscht sind.

Die deutsche Politik ist auf jeden Fall wieder spannend geworden, auch wenn grüne Reformprojekte wie etwa das überfällige Informationsfreiheitsgesetz nun wohl überhaupt auf lange Zeit keine Chance mehr haben und allgemein mit einem weiteren Kahlschlag der Bürgerrechte zu rechnen ist.

Und sonst: Bildermaschine für den Krieg. Über Geschichte, Ziele und Kritik der Pentagon-Filmarbeit, Telepolis.

Die Sekte von Camp Aschraf... und die amerikanischen Vorbereitungen für einen Machtwechsel im Iran, Telepolis.

A Center Forms to Outflank Left, Right. Monday's last-ditch compromise on confirming federal judges was a striking reassertion of the power of the political center in a bitterly polarized environment, pulling the Senate back from the brink of a crisis that threatened to paralyze the institution and dramatically change its character, LA Times.