2005-09-29

Kanzler-Qual: Und raus seid ihr

--- Franz Walter, Politikwissenschaftler in Göttingen, nimmt dem Spindoktor in Bezug auf die fortdauernde Kanzler-Qual die Worte aus dem Mund:
So schwach wie zu Beginn dieses Jahrhunderts war das bürgerliche Lager in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert kaum einmal. Die Parteien diesseits des christlich-liberal-konservativen Altbürgertums haben am 18. September - und dies erst zum zweiten Mal in der deutschen Parlamentsgeschichte - über 50 Prozent der Stimmen errungen. Allein das ist bemerkenswert. ... In den Zukunftssektoren der Gesellschaft und Wirtschaft, bei den Zugehörigen des Dienstleistungsbereichs, hat die Christliche Union lediglich deprimierende 29 Prozent der Stimmen erzielen können. Die Niederlage der CDU ist also gerade mit Blick auf die Zukunft noch weitaus drastischer und alarmierender, als es das Gesamtergebnis von 35,4 Prozent auf den ersten Blick offenbart. ... nachgerade trostlos ist, wie substanzlos, ja im Grunde uninteressiert die Debatte verläuft. Über die Möglichkeiten einer Minderheitsregierung verloren die meisten professionellen Interpreten keine zwei Sätze. Dabei bildeten Minderheitskabinette die Majorität unter den Regierungstypen im Gros der europäischen Länder seit 1945. ... Weder Schröder noch Merkel taugen auch nur im Geringsten als Kanzler einer Großen Koalition. Große Koalition mit zwei annähernd gleich starken Parteien funktionieren nur, wenn niemand an der Spitze steht, der als Truppenführer der einen Formation in den zurückliegenden Schlachten der anderen Seite tiefe Wunden zugefügt hat. Mehr noch: Große Koalition von gleichermaßen potenten Parteien vertragen keine Kraftnatur an der Spitze, keinen kalten und zielstrebigen Machtmenschen, keinem eifernden Ordnungs- und Richtungspolitiker. ... Große Koalitionen sind große Kungelrunden. Der Proporz spielt eine maßgebliche Rolle. Der Raum für Patronage wird weit gesteckt. Eben deshalb sind Gesellschaften mit grand coalitions auf Ventile und Korrektivfilter plebiszitärer Art angewiesen. Große Koalitionen und direkte Demokratie gehören - so paradox es auch klingen mag - unmittelbar zusammen; sie stabilisieren, rationalisieren und komplettieren einander. Deshalb sind es gerade die Konkordanzdemokratien in Europa, welche Volksbegehren und Volksentscheide kennen und praktizieren.
Mehr Experimentierfreude ist also nach wie vor allemal gefragt in der Berliner Runde. Noch scheint die Jamaika-Koalition ja auch nicht ganz vom Tisch zu sein, was zumindest noch ein wenig Farbe in den Koalitionspoker bringt. Gestern plauschte Angie jedenfalls ausgiebig und fast eine Viertelstunde lang bei der Bertelsmann-Party in Berlin mit der grünen Bundesvorsitzenden Claudia Roth, die es ja bekanntlich faustdick hinter den Ohren hat. Aber ansonsten fragt man sich ja, was in diese Promi-Tanten gefahren ist, die morgen fett in der FAZ für Merkel werben wollen. Stehen die alle unter der Fuchtel von Alice Schwarzer?

Und sonst: Der Abu-Ghraib-Sündenbock Lynndie England ist zu drei Jahren verknackt worden, doch damit will die Bush-Regierung letztlich nur eine echte Aufarbeitung der Folter-Skandale unter den Teppich kehren.

Überhaupt viel Ärger für die Republikaner, wo ihr Führer im Repräsentantenhaus und Bush-Kumpel Tom DeLay jetzt auch noch angeklagt worden ist: For G.O.P., DeLay Indictment Adds to a Sea of Troubles. Republicans are dealing with a string of ethical issues along with Iraq, Hurricane Katrina and hopeful Democrats.

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