Politik und Wahrheit: Eine dehnbare Verbindung
--- Hat Bundeskanzlerin Angela Merkel nun das Wort beim Mindestlohn gebrochen, wie die SPD landauf, landab verbreitet, oder nicht? Die FAZ versucht sich heute in einer Analyse der politischen Debatte, um Licht ins Dunkel zu bringen.
„Die Vorwürfe sind einfach zu verstehen, die Wahrheit ist kompliziert. Am 18. Juni 2007 befasste sich der Koalitionsausschuss mit dem Thema Mindestlöhne, über die in der Zwischenzeit viel gestritten wurde. CDU, CSU und SPD einigten sich auf einen Kompromiss, der auf zwei Seiten festgeschrieben ist.
Danach stimmt die Union zu, dass in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz neben den Gebäudereinigern auch andere Branchen aufgenommen werden können und tarifliche Mindestlöhne festlegen dürfen. Das solle aber nur für „Branchen mit einer Tarifbindung von mindestens 50 Prozent“ gelten. Bis zum 31. März 2008 sollten dazu die Tarifvertragsparteien einen „gemeinsamen Antrag“ für ihre jeweilige Branche stellen. Wenn also nun die Arbeitnehmer, für die der Tarifvertrag gilt, mehr als die Hälfte aller Kollegen ausmacht, sollte „unverzüglich“ ein Gesetzgebungsverfahren eingeleitet werden, das Mindestlöhne für diesen Sektor festlegt. Für die SPD und auch die Union schien das für die Briefträger zuzutreffen.
Für Wirtschaftszweige, in denen es keine Tarifverträge gibt oder nur für eine Minderheit der Arbeitnehmer, einigte sich der Koalitionsausschuss auf die Neuauflage des „Mindestarbeitsbedingungengesetz“ von 1952. Danach können kleinere Branchen zumindest eine Lohnuntergrenze vereinbaren. Die Union wollte in jedem Fall einen generellen Mindestlohn verhindern, den die SPD anstrebte. Nach diesem Ausschuss trat Arbeitsminister Müntefering (SPD) vor die Presse, und die wurde Zeuge eines „kontrollierten Wutausbruch“, wie er es nannte. Die Lehre des Abends sei, „dass man den Mindestlohn mit der Union nicht machen kann“. Müntefering gab sich als Verlierer, die Union reklamierte den Sieg für sich. Dabei war es eher umgekehrt: Auf Dringen der SPD musste die Union, die ja gar keinen weiteren Mindestlohn wollte, ihren Widerstand gegen die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes aufgegeben. Sie öffnete damit die Hintertür zur Einführung von Mindestlöhnen, wozu sie der Koalitionsvertrag nicht zwang.“
Dann wurde eifrig weiter verhandelt und vereinbart, den Mindestlohn für die Postler einzuführen, dafür das Postmonopol ab 2008 aufzugeben. Die FAZ: „Niemand sagte damals ausdrücklich, Frau Merkel habe „ihr Wort gegeben“, dass der Post-Mindestlohn in jedem Fall kommen werde. Doch trat Beck direkt nach dem Abend wie ein Sieger vor die Presse und sagte, dass „quasi ein Durchbruch“ für den Mindestlohn bei der Post gelungen sei. Frau Merkel war das zu viel des Überschwangs. Sie widersprach nicht öffentlich, ließ aber in Redaktionen anrufen und die Botschaft verkünden: „Nichts ist beschlossen. Wir haben uns nur verständigt, dass wir den Prozess konstruktiv begleiten.“ Nur Tage später fand sich der mit Beck besprochene Kompromiss im Ergebnis der Kabinettsklausur von Meseberg wieder: „Im Zusammenhang mit der Liberalisierung des Postmarktes zum 1. Januar 2008 wird die Branche der Postdienstleistungen noch in 2007 in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen, wenn die Tarifpartner einen entsprechenden Antrag stellen“, heißt es im Protokoll. Aber einschränkend folgt: „Dabei geht die Bundesregierung davon aus, dass mehr als 50 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Postbranche tarifgebunden sind.““
Seither glaubt die Union, der Tarifvertrag der Post sei nicht sauber zustande gekommen, weshalb der Mindestlohn geplatzt ist. Die Wahrheit ist manchmal eine komplizierte Sache.
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